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"Mehrdimensionale Diskriminierung"
Erster Gemeinsamer Bericht

der Antidiskriminierungsstelle des Bundes und der in ihrem Zuständigkeitsbereich betroffenen Beauftragten der Bundesregierung und des Deutschen Bundestages

- Steckbrief zum Bericht -

Autor*innen: Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS) Erscheinungsjahr: 2011

Kurzüberblick

Der Erste Gemeinsame Bericht der Antidiskriminierungsstelle und der in ihrem Zuständigkeitsbereich betroffenen Beauftragten der Bundesregierung und des Deutschen Bundestages wurde im Jahr 2010 zum  Thema "Mehrdimensionale Diskriminierung" vorgelegt.

Der Bericht bietet unter anderem Ansätze zur Beantwortung folgender Fragen:

  1. Was bedeutet es für Menschen, die von Diskriminierung betroffen sind, wenn sie nicht nur aufgrund ihres Geschlechts oder ihrer Behinderung, sondern gerade wegen des Geschlechts und der Behinderung zusammen diskriminiert werden?
  2. Lassen sich bestimmte Kombinationen von Diskriminierungsgründen ermitteln, an die Diskriminierungen besonders häufig anknüpfen?
  3. Welche Möglichkeiten gibt es, sich gegen solche Benachteiligungen zu wehren?
  4. Und welche Herausforderungen stellen sich für die Beratungsarbeit und die Auseinandersetzung vor Gericht in solchen Fällen?

Der von der ADS und den in ihrem Zuständigkeitsbereich betroffenen Beauftragten der Bundesregierung und des Deutschen Bundestages gemeinsam vorgelegte Bericht zeigt Bereiche auf, in denen die Mehrdimensionalität von Diskriminierung eine besondere Rolle spielt, und empfiehlt Maßnahmen und Vorgehensweisen, um dagegen vorzugehen. Dabei widmet er sich dem Thema aus unterschiedlichen (Arbeits-)Perspektiven und bietet im Annex die Möglichkeit, sich vertieft mit dem Thema im Rahmen wissenschaftlicher Untersuchungen auseinanderzusetzen.

Grundlage für den Ersten Gemeinsamen Bericht sind die beiden Studien:

Wichtigste Ergebnisse

Einheitliches Konzept für "Mehrdimensionale Diskriminierung"

Es nicht ganz einfach, ein einheitliches Konzept für „Mehrdimensionale Diskriminierung“ zu entwickeln. Das liegt unter anderem daran, dass in der wissenschaftlichen Literatur unterschiedliche Begrifflichkeiten verwendet werden und eine konsequente Differenzierung der unterschiedlichen Diskriminierungsphänomene multiplen Charakters weder im deutschen noch im internationalen (Rechts)Diskurs stattfindet. Die ADS plädiert für eine Vereinheitlichung des terminologischen Gebrauchs. Hierfür schlägt die ADS die Verwendung des Begriffs „mehrdimensionale Diskriminierung“ als Oberbegriff für alle Formen von Diskriminierung, die auf mehr als einem Diskriminierungsgrund basieren, vor. Das Konzept der „Mehrdimensionalen Diskriminierung“ berücksichtigt, dass jeder Mensch unweigerlich mehrere Eigenschaften besitzt, die im AGG als potentielle Diskriminierungsgründe benannt sind. Denn jeder Mensch hat ein Geschlecht, ein Alter, zumindest eine ethnische Herkunft, eine religiöse oder nichtreligiöse Überzeugung etc. Durch die Berücksichtigung von Mehrdimensionalität von Diskriminierungen können Lebenswirklichkeiten von Menschen exakter wahrgenommen werden. Denn Diskriminierungserfahrungen sind ebenso facettenreich wie die Persönlichkeit jedes einzelnen Menschen.

In der Rechtspraxis:

In Deutschland beruft sich § 4 AGG explizit auf das Konzept der „Mehrdimensionalen Diskriminierung“. Trotz § 4 AGG wird in der Rechtspraxis mehrdimensionale Diskriminierung nicht oder nur sehr unzureichend thematisiert. Ein Grund liegt möglicherweise im AGG selbst. Nach § 22 AGG müssen Betroffene für jeden in Betracht kommenden Diskriminierungsgrund Indizien vortragen. Der Nachweis von Mehrfachdiskriminierung stellt sich dadurch in der Praxis als schwieriger dar, als wenn nur Indizien für die Diskriminierung auf Grund eines Merkmals vorgetragen werden müssten. Erschwerend kommt hinzu, dass hinsichtlich der einzelnen Merkmale oft unterschiedliche Rechtfertigungsgründe für eine mögliche Ungleichbehandlung bestehen, was die Rechtsanwendung beim Zusammenwirken mehrere Gründe verkompliziert. Die skizzierten rechtlichen Schwierigkeiten tragen womöglich dazu bei, dass Mehrfachdiskriminierung in gerichtlichen Verfahren oftmals nicht problematisiert wird.

In der Beratungspraxis:

Mehrdimensionale Diskriminierung wird in der Beratungspraxis häufig verkannt. Dies liegt unter anderem daran, dass den Betroffenen oft selbst nicht bewusst ist, dass sie mehrfach diskriminiert wurden und oftmals Beratung nur zu einem Diskriminierungsmerkmal gesucht wird. Teilweise werden bestimmte Diskriminierungsgründe von den Betroffenen auch verschwiegen, weil sie eine bestimmte Merkmalszugehörigkeit als Stigma empfinden. Problematisch ist auch, dass die Mitarbeitenden von Beratungsstellen selbst oft auf ein bestimmtes Merkmal spezialisiert sind und andere noch im Raum stehenden Diskriminierungsgründe nur unzureichend wahrnehmen. Es ist daher grundsätzlich wichtig, das Verständnis für mehrdimensionale Diskriminierung im Rahmen von Beratungsarbeit aufzubauen und das bestehende Wissen der Beratungseinrichtungen zu optimieren. Selbst wenn im Rahmen der Beratung erkannt wird, dass ein Fall von Mehrfachdiskriminierung vorliegt, wird der Beratungsvorgang oft nicht oder nur unzureichend dokumentiert. Um Mehrfachdiskriminierung sachgerecht erfassen zu können, ist eine einheitliche, standardisierte Datenerfassung erforderlich.

Handlungsoptionen

Empfehlungen und Forderungen der ADS
in Bezug auf die Verankerung von mehrdimensionaler Diskriminierung

Datenerhebung:

Ausbau und Verbesserung von (sensibler) Datenerhebung, die auch Fälle mehrdimensionaler Diskriminierung umfasst. Die Initiierung und Durchführung konkreter Projekte zur Verbesserung der Datenerhebung und Sammlung von Fallzahlen gemeinsam mit Gerichten, die mit AGG-Fällen befasst sind. Einbezogen werden sollten auch Daten von Gewerkschaften, (z. B. Arbeitgeber-)Verbänden und dem Statistischen Bundesamt.

Öffentlichkeitsarbeit:

Das Bewusstsein für mehrdimensionale Diskriminierung muss geschärft werden, um so eine gezielte Beratung und Rechtsdurchsetzung im konkreten Fall zu ermöglichen.

Forschung:

Um valide Erkenntnisse zu erlangen, ist ein interdisziplinärer Ansatz erforderlich, der unter anderem sozialwissenschaftliche, juristische und bildungspolitische Fragestellungen miteinander verknüpft. Daneben ist ein methodisches Vorgehen vonnöten, das wissenschaftliches Wissen mit praktischem Wissen verbindet (verstärkte inter- und transdisziplinäre Forschung zum Thema „Mehrdimensionale Diskriminierung“).

Beratung:

Wünschenswert ist die Durchführung von Schulungen des Personals von Beratungseinrichtungen bzw. beratenden Personen, sodass Hilfe bzgl. des Erkennens und des individuellen Umgangs mit einer von mehrdimensionaler Diskriminierung betroffenen Person gegeben wird.

Rechtsberatung und gerichtliche Praxis:

Vor dem Hintergrund zahlenmäßig geringer gerichtlicher Prüfungen von mehrdimensional-diskriminierenden Aspekten sind verstärkte Fortbildungen und Schulungen von Richterinnen und Richtern sowie Anwältinnen und Anwälten zum Umgang mit mehrdimensionaler Diskriminierung wünschenswert.

Recht:

Es sollte klarstellend geregelt werden, dass bei einer mehrdimensionalen Benachteiligung dieser Aspekt sowohl bei der Prüfung der Rechtfertigungsgründe als auch im Hinblick auf die Höhe der Entschädigung angemessen zu berücksichtigen. Aus Gründen der Rechtssicherheit wird angeregt, in § 3 AGG eine gesetzliche Begriffsbestimmung (Legaldefinition) zu mehrdimensionaler Diskriminierung mit nicht abschließender Nennung der wesentlichen Untergruppen (insbesondere intersektionale, multiple und Mehrfachdiskriminierung) aufzunehmen.

Steckbrief ausdrucken

Bericht an den Bundestag mit Empfehlungen zu mehrdimensionaler Diskriminierung

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