Rechtsvergleich der europäischen Systeme zum Antidiskriminierungsrecht
- Steckbrief zur Expertise -
Autor*innen: Prof. Dr. Martina Benecke, im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS) Erscheinungsjahr: 2010
Kurzüberblick
Die Expertise vergleicht und bewertet die Umsetzung der europäischen Gleichbehandlungsrichtlinien in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union.
Wichtigste Ergebnisse
Europäische Vorgaben als rechtlicher Hintergrund des AGG
Die Europäische Union hat ihre Mitgliedsstaaten verpflichtet, mit vier Gleichbehandlungsrichtlinien den Schutz vor Diskriminierung in das Arbeits- und Privatrecht zu übertragen. Jede Richtlinie schützt unterschiedliche personenbezogene Merkmale in unterschiedlichen Lebensbereichen:
- Antirassismus-Richtlinie 2000/43/EG vom 29.06.2000
schützt die Merkmale: ethnische Herkunft und „Rasse“ in den Bereichen Beschäftigung und Beruf, Zugang zu öffentlich angebotenen Gütern und Dienstleistungen - Rahmenrichtlinie 2007/78/EG vom 27.11.2000
schützt die Merkmale: Religion, Weltanschauung, Behinderung, Alter, sexuelle Identität im Bereich Beschäftigung und Beruf - Gender-Richtlinie 2006/54/EG vom 05.07.2008 (hat Richtlinie 2002/73/EG vom 23.09.2002 ersetzt)
schützt das Merkmal Geschlecht im Bereich Beschäftigung und Beruf - Gender-Richtlinie Zivilrecht 2004/113/EG vom 13.12.2004
schützt das Merkmal Geschlecht im Bereich Zugang zu öffentlich angebotenen Gütern und Dienstleistungen
Die vier Gleichbehandlungsrichtlinien wurden mit dem AGG durch ein einheitliches Gesetz in deutsches Recht umgesetzt. Es trat am 18.08.2006 in Kraft.
Bisherige praktische Erfahrungen
- Im Jahr 2010 bestehen nur noch wenige Defizite bei der Umsetzung der Gleichbehandlungsrichtlinien. Die meisten EU-Mitgliedsstaaten haben die Richtlinie übererfüllt. Bestehende Defizite sind größtenteils nachgebessert worden.
- Gerichtsverfahren haben in allen Staaten vergleichsweise kaum Erfolg. In Großbritannien liegt die Erfolgsquote bei 10 Prozent, in Ungarn bei 3 Prozent.
- Das Gesetzgebungsverfahren hat in den Mitgliedsstaaten eine Diskussion über Diskriminierung angestoßen und die Öffentlichkeit dafür sensibilisiert.
Die Unterschiede
Gesetzgeberische Umsetzung
Staaten wie Deutschland, Estland und die Niederlande haben die Richtlinien durch ein zentrales Antidiskriminierungsgesetz umgesetzt. Andere Staaten verfügen über mehrere Antidiskriminierungsgesetze, so unter anderem Belgien, Österreich und Dänemark.
Geschützte Diskriminierungsgründe
In ost- und südeuropäischen Ländern wurden weitere Diskriminierungsgründe wie Krankheit, politische und gewerkschaftliche Tätigkeit, Familienstand und der soziale Status aufgenommen. Vor allem die osteuropäischen Staaten haben die Aufzählung von Diskriminierungsgründen nicht abschließend gestaltet.
Rechtsfolgen
In Bezug auf Sanktionen bestehen erhebliche Unterschiede. In nord- und westeuropäischen Staaten sind Kompensationen weitverbreitet, in südeuropäischen Ländern strafrechtliche Lösungen.
Antidiskriminierungsverbände
Bezüglich der Beteiligung von Verbänden an Gerichtsverfahren bestehen erhebliche Unterschiede. Nur in wenigen Staaten können Verbände „im Namen“ von Diskriminierungsopfern vor Gericht handeln.
Antidiskriminierungsstellen
In den Mitgliedsstaaten bestehen grundlegende Unterschiede bezüglich der Anzahl der eingerichteten Stellen, ihrer Größe, der Zuständigkeit, Befugnisse, Rechtsnatur und des Namens. In osteuropäischen Staaten verfügen die Stellen über umfangreiche rechtliche Kompetenzen durch justizähnliche Funktionen und Befugnisse.
Umsetzungstypen
Geografisch geordnet und vereinfachend können drei Umsetzungsgruppen unterschieden werden:
Die nordwesteuropäische Gruppe
umfasst die skandinavischen Mitgliedsländer, das Vereinigte Königreich, die Beneluxländer, Deutschland, Österreich und Frankreich. Kennzeichnend ist eine „routinierte“ Umsetzung.
Die südeuropäische Gruppe
umfasst Portugal, Spanien, Italien, Malta, Griechenland und Zypern. Es kann hier von einer „widerwilligen“ Umsetzung gesprochen werden.
Die osteuropäische Gruppe
erfasst die baltischen Staaten, Polen, Bulgarien, Rumänien, Slowenien, die Slowakei, Tschechien und Ungarn. Die Umsetzung kann als „ambitioniert“ bezeichnet werden.
Handlungsoptionen
Die Autor*in spricht sich gegen eine nicht abschließende Aufzählung von Diskriminierungsgründen aus, da unter anderem die sorgfältige Abwägung von Diskriminierungsgrund und Rechtfertigung relativiert wird. Bezüglich einzelner Diskriminierungsgründe kommt die Autorin zu folgenden Schlüssen:
- Gesundheitszustand
Von Vorteil ist die Vermeidung der schwierigen Abgrenzung zur Behinderung. Der Schutz von Krankheit und Gesundheitszustand ist aber nur dann sinnvoll, wenn er mit einem ausgewogenen System an Rechtfertigungsgründen verbunden ist. - Familienstand
Sofern eine gezielte Familienförderung als positive Maßnahme möglich ist, ist die Aufnahme des Diskriminierungsgrundes sinnvoll. - Sozialer Status
Praktische Bedeutung hat der „soziale Status“ im Zivilrecht. Insgesamt würden hier die Gefahren einer Relativierung und Rechtsunsicherheit überwiegen.