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Schutz vor Benachteiligung aufgrund chronischer Krankheit

unter besonderer Berücksichtigung des internationalen Rechts, des Unionsrechts, des AGG und des SGB IX sowie mit einem rechtsvergleichenden Seitenblick

- Steckbrief zum Forschungsprojekt -

Autor*innen: Prof. Dr. Kurt Pärli und Lic. iur. Tarek Naguib, im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS) Erscheinungsjahr: 2012

Kurzüberblick

Die Studie greift die rechtswissenschaftliche und rechtspolitische Diskussion zur Bedeutung des Antidiskriminierungsrechts für den Schutz vor Benachteiligung aufgrund chronischer Krankheit in Deutschland, der Europäischen Union und auf internationaler Ebene auf. Auf der Grundlage einer Auslegeordnung zum Benachteiligungsvorkommen in Deutschland wurde geklärt, ob (bzw. inwieweit) das für Deutschland gültige Antidiskriminierungs- und Sozialrecht vor Benachteiligung aufgrund chronischer Krankheit Schutz bietet. Des Weiteren wurde geprüft, ob der bestehende rechtliche Standard die Anforderungen eines grund- und menschenrechtlich fundierten Diskriminierungsschutzes erfüllt. Schließlich eruiert die Expertise überblicksartig die Situation in anderen Ländern, so insbesondere in Frankreich, Großbritannien und Kanada, in den Niederlanden und der Schweiz. Die Ergebnisse münden in Empfehlungen. Der Fokus der Analyse richtet sich auf Fallkonstellationen im privaten Versicherungsdienstleistungssektor sowie auf den Zugang und die Beendigung von Beschäftigungsverhältnissen.

Wichtigste Ergebnisse

Deutliche Benachteiligungen von Menschen mit chronischen Krankheiten

Die Daten zum Vorkommen von Benachteiligung aufgrund chronischer Krankheit sind stark lückenhaft. Daher empfehlen die Autoren, weitere Daten zu erheben, um ein mehr oder weniger repräsentatives Bild über Benachteiligung aufgrund chronischer Krankheit zu erstellen. Auf der Grundlage der vorliegenden Studien und Berichte sind vor allem Menschen mit einer visuell wahrnehmbaren chronischen Erkrankung und/oder einer Erkrankung mit einem Stigma von Benachteiligungen betroffen, insbesondere im Arbeitsleben und bei Versicherungsdienstleistungen. Am häufigsten wird von Benachteiligungs- und Diskriminierungsvorfällen von Menschen mit HIV/Aids oder Adipositas berichtet. Dies hängt auch damit zusammen, dass hier entsprechendes Datenmaterial zur Verfügung steht.

Benachteiligungen von Menschen mit chronischen Krankheiten im Arbeitsleben

Im Arbeitsleben manifestiert sich Benachteiligung aufgrund chronischer Krankheit in allen Phasen eines Arbeitsverhältnisses – im Bewerbungsverfahren, bei Vertragsschluss, während der Anstellung und im Zusammenhang mit der Auflösung des Arbeitsverhältnisses. Ausgewiesen sind Benachteiligungen etwa bei Diabetes mellitus und HIV/Aids, aber auch bei Adipositas, starken Formen der Neurodermitis und psychischen Krankheiten. Chronische Erkrankungen werden oft bei Bewerbungen und im Beschäftigungsverhältnis aus Angst vor negativen Konsequenzen wie Kündigung oder Nicht-Einstellung verschwiegen.

Benachteiligung von Menschen mit chronischer Krankheit im privaten Versicherungsdienstleistungssektor

Das private Versicherungswesen ist ein weiterer Bereich, in welchem Menschen relativ häufig von Benachteiligung aufgrund chronischer Krankheit betroffen sind. Dokumentiert sind Benachteiligungen – sowohl durch Verweigerung einer Police als auch durch Unterschiede in der Prämienfestsetzung – bei Diabetes mellitus, HIV/Aids, Multipler Sklerose, chronischen Darmentzündungen und bei psychischen Erkrankungen wie Depressionen.

Chronische Krankheit wird im Völkerrecht, im Unionsrecht und im AGG nicht als eigenständiges Merkmal aufgeführt.

„Chronische Krankheit“ ist im Völkerrecht (insbesondere in den UN-Menschenrechtpakten, der Europäischen Menschenrechtskonvention [EMRK] und den einschlägigen Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation), im Unionsrecht und im AGG nicht als eigenständiges Merkmal aufgeführt. Da die Kataloge der Diskriminierungsdimensionen nicht abschließend sind, fallen chronische Krankheiten in den UN-Menschenrechtpakten und in der Europäischen Menschenrechtskonvention als nicht ausdrücklich aufgeführtes Merkmal unter „sonstiger Status“.

Das Merkmal „chronische Krankheit“ ist eng an den Behinderungsbegriff des Grundgesetzes und des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) geknüpft.

Die Frage, ob „chronische Krankheit“ implizit vom Behinderungsbegriff erfasst ist, ist nicht abschließend geklärt. Gestützt auf das soziale Modell von Behinderung kommen die Gutachter zum Schluss, dass „chronische Krankheit“ unter den Begriff der „Behinderung“ in Art. 3 Abs. 3 Satz 2 des Grundgesetzes (GG) und § 1 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) fällt. Voraussetzung jedoch ist, dass mit der chronischen Krankheit eine dauerhafte medizinische Funktionsbeeinträchtigung einhergeht, die im Zusammenwirken mit gesellschaftlichen Barrieren zu einer Beeinträchtigung in der gesellschaftlichen Teilhabe führt oder mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit dazu führen könnte bzw. eine solche droht. Nicht entscheidend ist, ob die Beeinträchtigung in der gesellschaftlichen Teilhabe auf die Funktionsbeeinträchtigung zurückzuführen ist, oder ob sie Ergebnis davon ist, dass der betroffenen Person mit chronischer Krankheit eine mangelhafte Teilhabefähigkeit zugeschrieben wird. Auch da, wo gesellschaftliche Vorurteile bzw. Stigmata aufgrund einer chronischen Krankheit zu einer Teilhabebeeinträchtigung führen, liegt eine Behinderung vor.

Statistische Benachteiligung von Menschen mit chronischen Krankheiten im privaten Versicherungsdienstleistungssektor als besondere Herausforderung

Menschen mit chronischen Erkrankungen sind im privaten Versicherungswesen erheblich von Benachteiligungen betroffen. Das gilt insbesondere für die dem Versicherungsvertragsgesetz (VVG) unterstehenden Versicherungen (Lebens-, Berufsunfähigkeits-, Unfall-, Krankenversicherung). Aufgrund der im privaten VVG geltenden Vertragsfreiheit sind Versicherungsunternehmen je nach Ergebnis einer Risikokalkulation grundsätzlich frei, den Abschluss eines Versicherungsvertrags zu verweigern oder ihn zu vergleichsweise schlechteren Bedingungen (z. B. höheren Prämien) zu vereinbaren. Die Risikobewertung liegt in der Zuständigkeit der Versicherungsunternehmen. Zwar ist nach AGG (§ 20 Abs. 2 Satz 2) eine unterschiedliche Behandlung wegen einer Behinderung nur zulässig, wenn diese auf anerkannten Prinzipien risikoadäquater Kalkulation beruht, insbesondere auf einer versicherungsmathematisch ermittelten Risikobewertung unter Heranziehung statistischer Erhebungen. Hingegen ist es rechtlich umstritten, ob sich Versicherungsunternehmen ausschließlich auf statistische Daten stützen dürfen, ober ob bei Fehlen solcher Statistiken auch anderweitige Grundlagen zur Risikokalkulation wie medizinische Erfahrungswerte genügen.

Hinzu kommt, dass in der Praxis weder die Daten, auf die sich die Versicherungsanbieter*innen bei der Risikokalkulation stützen, noch das Verfahren der Risikokalkulation insgesamt transparent sind. Unklar ist zudem, von welchem Begriffsverständnis zu „chronische Krankheit“ die Versicherungsunternehmen ausgehen. Nicht bekannt ist weiter, wie sie die individualisierten Daten erheben, analysieren und diese im Verhältnis zu den statistischen Daten bzw. Erfahrungswerten gewichten. Auch bestehen nur oberflächliche Kenntnisse über die Praxis zur Begründung von Benachteiligungen in den konkreten Einzelfällen.

Diese rechtlichen und faktischen Unsicherheiten sind aus völker- und verfassungsrechtlicher Perspektive höchst problematisch – insbesondere angesichts der erheblichen Eingriffe in das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 GG), der bedeutenden Einschnitte in zentrale Bereiche der Lebensführung sowie aufgrund der wahrscheinlichen Perpetuierung der Stigmatisierung und Benachteiligung von Menschen mit chronischer Krankheit.

Schutz von Menschen mit chronischen Krankheiten im internationalen Recht

Ähnlich wie in Deutschland werden in verschiedenen Gesetzen und Diskriminierungsverboten in einigen Ländern wie der Schweiz, Frankreich und Großbritannien chronische Erkrankungen unter dem Merkmal „Behinderung“ implizit miterfasst. Darüber hinaus wird die Diskriminierungsdimension „chronische Krankheit“ in bestimmten Erlassen in Belgien, Großbritannien, den Niederlanden und Portugal ausdrücklich erfasst oder aber spezifische Krankheiten explizit erwähnt. Eine weitere Lösung findet sich mit der Einführung der Dimension „Gesundheitszustand“ bzw. „Gesundheit“ in Erlassen in Frankreich, Ungarn und der Slowakei.

Handlungsoptionen

Anerkennung von „chronischer Krankheit“

  • als impliziter Bestandteil des Behinderungsbegriffs gemäß Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG und § 1 AGG

Gewährleistung eines effektiven Schutzes vor Diskriminierung aufgrund chronischer Krankheit mittels Novellierung von § 1 AGG

  • Konkret: Einführung einer neuen Diskriminierungsdimension, z. B. „Krankheit“ oder „chronische Krankheit“ oder eine explizite und nicht abschließende Aufzählung einzelner (chronischer) Krankheiten. Es wird empfohlen, die Vor- und Nachteile der verschiedenen gesetzgeberischen Optionen sorgfältig gegeneinander abzuwägen und hierbei auch die im Rechtsgutachten dargestellten rechtsvergleichenden Ansätze vertiefend zu prüfen.

Restriktive Auslegung von § 20 Abs. 2 Satz 2 AGG

  • Demnach unterliegt eine Benachteiligung aufgrund chronischer Krankheit, die im Sinne von § 1 AGG eine Behinderung darstellt, einem Rechtfertigungsmaßstab, der einzig versicherungsmathematisch einwandfreie statistische Daten zulässt.
  • Die Rechtsunsicherheit hinsichtlich der Auslegung von § 20 Abs. 2 Satz 2 AGG ist durch die Gesetzgebung zu beseitigen.

Private Versicherungsvorsorge

  • Es ist gesetzgeberisch sicherzustellen, dass Menschen mit chronischer Krankheit nicht von der privaten Versicherungsvorsorge ausgeschlossen werden können. So ist über § 20 Abs. 2 Satz 2 AGG und das VAG (Versicherungsaufsichtsgesetz) festzuhalten, dass eine unterschiedliche Behandlung wegen einer chronischen Krankheit nur aufgrund versicherungsmathematisch ermittelter Statistiken zulässig ist.
  • Versicherungsunternehmen müssen Transparenz in ihren Risikodifferenzierungsverfahren sowie deren zugrundeliegenden statistischen Daten und individuellen Angaben schaffen.
  • Zur Herstellung dieser Transparenz ist eine eindeutige Definition und Verwendung des Begriffes „chronische Krankheit“ und der darunter erfassten Krankheiten erforderlich.
  • Ergänzend dazu ist analog zu Art. 10a Abs. 2a VAG durch die Gesetzgebung klarzustellen, dass ein Versicherungsunternehmen, das unterschiedliche Prämien oder Leistungen aufgrund chronischer Krankheit vorsieht, die versicherungsmathematischen und statistischen Daten zu veröffentlichen hat, aus denen die Berücksichtigung der entsprechenden chronischen Krankheit als Faktor der Risikobeurteilung abgeleitet wird. Diese Daten sind zudem regelmäßig zu aktualisieren.

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