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Mehrdimensionale Diskriminierung

- Steckbrief zu den beiden Expertisen des Forschungsprojekts -

Autor*innen: Prof. Dr. Susanne Baer, Melanie Bittner, Anna Lena Göttsche (juristische Expertise) / Prof. Dr. Susanne Dern, Prof. Dr. Lena Inowlocki, Prof. Dr. Dagmar Oberlies, Dr. Julia Bernstein (empirische Expertise) Erscheinungsjahr: 2010

Kurzüberblick

Mit zwei Expertisen untersucht die ADS zum einen Begriffe, Konzepte sowie Gerichtsentscheidungen zur mehrdimensionalen Diskriminierung. Zum anderen wird anhand narrativer Interviews geklärt, ob es Kombinationen von Kategorien gibt, die besonders häufig in Diskriminierungserfahrungen resultieren, in welchen Lebensbereichen diese gemacht werden und welche Probleme sich für die Beratungsarbeit stellen.

Wichtigste Ergebnisse

Ergebnisse der rechtlichen Expertise

  • Die im AGG genannten Diskriminierungsgründe – „Rasse“, ethnische Herkunft, Geschlecht, Religion oder Weltanschauung, Behinderung, Alter und sexuelle Identität – benennen Lebensrealitäten. Entlang der Diskriminierungsgründe verteilen sich gesellschaftliche Chancen, werden Menschen stereotypisiert und bewertet. Es handelt sich um Kategorisierungen.
  • Diese Kategorisierungen stehen nicht nebeneinander, sondern sind intersektional verschränkt, voneinander abhängig und miteinander verwoben. Diskriminierung geschieht nicht eindimensional, also nicht exklusiv auf einen Grund bezogen, sondern existiert in komplexen Formen. Mehrdimensionale Diskriminierung ist daher eher der Regelfall. Eine eindimensionale Sicht stereotypisiert, verzerrt und verkürzt die Probleme, um die es eigentlich geht.
  • Welche rechtlichen Konsequenzen mehrdimensionale Diskriminierung hat, ist bisher weitgehend ungeklärt. Das AGG definiert mehrdimensionale Diskriminierung nicht.
  • Die Analyse ausgewählter Gerichtsentscheidungen zeigt, dass Gerichte mehrdimensionale Diskriminierung tendenziell nicht erkennen oder nicht angemessen berücksichtigen.

Ergebnisse der empirischen Expertise

  • Während die Dimensionen Alter, Herkunft, Geschlecht und sexuelle Orientierung wechselseitig verstärkend wirken, hat eine Behinderung in der Regel einen dominanten Einfluss auf die lebensgeschichtlichen Erfahrungen und überlagert diese. Häufig traten die Dimensionen „Alter und Behinderung“ sowie „prekäre Lebensbedingungen und ethnische Herkunft“ zusammen.
  • Die Familie ist der Ort, aus dem die meisten und oft prägenden verletzenden Erfahrungen berichtet wurden. Gleichzeitig wird die Familie als wichtigste Ressource im Umgang mit Diskriminierung genannt.
  • Menschen mit Migrationshintergrund sowie Lesben und Schwule erfahren vor allem in der Schule Diskriminierungen. Auch bei der Suche nach einem Ausbildungs- oder Praktikumsplatz, bei der Wohnungs- und Arbeitssuche und bei Behörden werden Diskriminierungserfahrungen gemacht. Diese werden häufig von Menschen mit Migrationshintergrund – oft in Kombination mit dem Geschlecht – erlebt.
  • Gewalt und Übergriffe treffen Menschen vor allem wegen ihrer Herkunft, ihres Geschlechts und ihrer sexuellen Orientierung.
  • Besorgniserregend ist, dass Ratsuchende in Beratungsstellen nicht immer auf Menschen stoßen, die eine Qualifikation zur Beratung haben, also über eine methodische Ausbildung verfügen, ihre eigenen Haltungen und Vorurteile reflektieren oder Unterschiede einbeziehen.
  • Eher selten werden seitens Ratsuchenden rechtliche Schritte unternommen. Gründe hierfür sind Angst vor weiterer Stigmatisierung, Zweifel am Erfolg von Gerichtsverfahren sowie eine Selbstbeschuldigung für das Geschehene.

Handlungsoptionen

Die Autor*innen empfehlen in Bezug auf

Forschung

  • die Entwicklung besserer methodischer Instrumente, um mehrdimensionale Diskriminierung angemessen zu verstehen,
  • eine systematische Berücksichtigung mehrdimensionaler Diskriminierung bei der Erhebung von Beschwerdedaten.

Öffentlichkeitsarbeit

  • die Vermittlung von mehrdimensionaler Diskriminierung als gesellschaftliches Problem in großer Brandbreite.

Rechtssetzung und Rechtsdurchsetzung

  • eine offene Liste an Diskriminierungsgründen im AGG sowie einem Entgegenwirken von Hierarchisierungen der Kategorien,
  • eine rechtsdogmatisch überzeugende Lösung bezüglich Sanktionen, bei der mehrdimensionaler Diskriminierung nicht additiv, sondern einzelfallgerecht berücksichtigt wird,
  • den Abbau von Hürden beim Zugang zum Recht.

Soziale Arbeit und Beratung

  • Orientierungshilfen für Betroffene bei der Beratungsstellensuche,
  • Schulungskonzepte für Berater*innen.

die Durchführung positiver Maßnahmen

  • eine Überprüfung auf Intersektionalität hin, um aufzuzeigen, ob Privilegien reproduziert werden.

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