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Rechtsfreie Räume?

Die Umsetzung der EU-Antirassismusrichtlinie im Wohnungsbereich

- Steckbrief zum Rechtsgutachten -

Autor*innen: Prof. Dr. Gregor Thüsing, LL.M. (Harvard), Dr. Sabine Vianden, im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS) Erscheinungsjahr: 2019

Kurzüberblick

Das Rechtsgutachten untersucht, ob die Umsetzung der EU-Antirassismusrichtlinie 2000/43/EG durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz AGG bei der Vermietung von Wohnraum vollständig und ausreichend ist.

Indem das Europarecht ausgelegt wird, insbesondere unter Berücksichtigung der Genese der Richtlinie, werden mögliche Umsetzungsdefizite im Hinblick auf Anwendungsbereich und überschießende Rechtfertigungsmöglichkeit bestimmt. Dabei werden die Bereichsausnahme privater Vermietung und die mögliche Rechtfertigung des § 19 Abs. 3 AGG als positive Maßnahme europarechtlich geprüft.

Wichtigste Ergebnisse

Der Anwendungsbereich der Richtlinie 2000/43/EG im Hinblick auf die Vermietung von Wohnraum: Zur Bereichsausnahme privater Vermietung

Die Systematik des § 19 AGG

  • Im Hinblick auf die Merkmale Rasse und ethnische Herkunft gilt nach § 19 Abs. 2 AGG das zivilrechtliche Diskriminierungsverbot unabhängig von der Einordnung als Massengeschäft i.S.v. § 19 Abs. 1 Nr. 1 AGG.
  • Deshalb ist § 19 Abs. 5 S. 3 AGG für diese Merkmale irrelevant. Die Bereichsausnahme privater Vermietung in § 19 Abs. 5 S. 1 und S. 2 AGG findet jedoch Anwendung. Die Europarechtskonformität dieser Regelung ist heftig umstritten.

Grundlage der Bereichsausnahme in der Richtlinie 2000/43/EG?

  • Wortlaut: Enthält keinen Ausnahmetatbestand oder Rechtfertigungstatbestand für Benachteiligungen bei besonderem Nähe- und Vertrauensverhältnis. Lediglich Erwägungsgrund 4 spricht Schutzbedürftigkeit dieses Bereiches an.
  • Systematik: Umkehrschluss zu Art. 3 Abs. 1 Richtlinie 2004/113/EG, der eine solche Bereichsausnahme ausdrücklich vorsieht, zeigt, dass dies im Bereich von Rasse und ethnischer Herkunft gerade nicht gewollt ist.
  • Ziel: Ausnahmen widersprechen dem Ziel der Schaffung eines Rahmens zur Bekämpfung der Diskriminierung aufgrund der Rasse oder der ethnischen Herkunft im Hinblick auf die Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in den Mitgliedstaaten.
  • Gebotene primärrechtskonforme Auslegung: Die Privatsphäre ist ein durch Art. 7 GRCh geschütztes Grundrecht und bei der Auslegung zu berücksichtigen – daraus kann jedoch kein eigenständiger Rechtfertigungsgrund oder eine Bereichsausnahme hergeleitet werden.

Umsetzung in anderen Ländern

  • Großbritannien: Ausnahme bei Alleineigentümer*in und –bewohner*in findet bei Rasse und Ethnie keine Anwendung.
  • Frankreich: Das Recht auf Wohnung ist Grundrecht, keine Bereichsausnahme für Diskriminierungsverbot.
  • Österreich: Keine Ausnahmebestimmung für besonderes Nähe- oder Vertrauensverhältnis, aber bedenkliche Rechtfertigungsmöglichkeit für das Gebot des diskriminierungsfreien Inserierens von Wohnraum.
  • Schweden und Dänemark: Ausnahme ausschließlich für den Bereich des Privat- bzw. Familienlebens.

Zur möglichen Rechtfertigung des § 19 Abs. 3 AGG als positive Maßnahme i.S.d. Art. 5 Richtlinie 2000/43/EG

  • Eine positive Maßnahme kann nur zugunsten von benachteiligten Merkmalsträgern bestehende Nachteile ausgleichen.
  • Im Anwendungsbereich der Richtlinie 2000/43/EG müssen sie auf die tatsächliche Gleichstellung von Gruppen, die Diskriminierungen aufgrund dieser Merkmale ausgesetzt sind, hinwirken.
  • Das wird durch § 19 Abs. 3 AGG nicht gewährleistet – aber durch § 5 AGG.

Folgen des Umsetzungsdefizits

  • Gebot europarechtskonformer Auslegung – aber nicht contra legem und nur unter Beachtung der Gebote der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit.
  • Mögliche Unanwendbarkeit der Ausnahme aufgrund unmittelbar wirkenden Europarechts.
  • Ausdrückliches gesetzliches Handeln ist daher notwendig.

Vorschlag für eine Neufassung der § 19 Abs. 3, Abs. 5 S. 1 und 2 AGG

  • Abs. 3: Beschränkung des Rechtfertigungsgrundes auf den Anwendungsbereich der Richtlinie 2000/78/EG und Klarstellung, dass positive Maßnahmen nur zugunsten von Personen, die aus Gründen der Rasse / der ethnischen Herkunft diskriminiert werden, bei der Vermietung von Wohnraum möglich sind.
  • Abs. 5 S. 1 und 2 AGG: Erhebung der Intensität des durch das Schuldverhältnis entstehenden Näheverhältnisses zum gesetzlichen Merkmal

Handlungsoptionen

Das Rechtsgutachten schlägt mit Blick auf europarechtliche Vorgaben unter anderem eine Klarstellung im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (§ 19 Abs. 5 AGG) vor, dass hohe Anforderungen an ein „besonderes Nähe- oder Vertrauensverhältnis der Parteien“ zu stellen sind, wenn dies dazu führen soll, dass der Diskriminierungsschutz hinter den Schutz der Privatsphäre zurücktritt. Ebenso wird mit Blick auf Diskriminierungen wegen der ethnischen Herkunft eine Klarstellung im § 19 Abs. 3 AGG empfohlen.

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