Diskriminierung von Menschen aus dem östlichen Europa - Das Jobcenter als Schnittstelle zwischen Arbeitsmarkt und Wohlfahrtsstaat
- Steckbrief zum Forschungsprojekt -
Autor*innen: Jure Leko, Aleksandra Lewicki, Jannis Panagiotidis, Hans-Christian Petersen Erscheinungsjahr: 2024
Kurzüberblick
Die Studie untersucht, wie Menschen aus dem östlichen Europa im Kontakt mit deutschen Jobcentern Diskriminierung erfahren. Jobcenter fungieren als zentrale Schnittstelle zwischen Arbeitsmarkt und Wohlfahrtsstaat: Sie entscheiden über Leistungen, beraten und vermitteln Arbeit — und sie verfügen dabei über Ermessensspielräume, die Teilhabe fördern oder erschweren können. Im Fokus stehen EU-Bürger*innen nach den Osterweiterungen sowie Geflüchtete aus der Ukraine seit 2022; Ziel ist es, sichtbar zu machen, wie gesellschaftliche Vorurteile in behördliches Handeln übersetzt werden und welche Folgen das für Betroffene hat.
Die Untersuchung stützt sich auf 82 qualitative Interviews (Erhebungszeitraum: September 2023 bis Mai 2024). Auf Grundlage eines Leitfadens wurden 38 Einzelinterviews und 2 Gruppeninterviews in 22 Jobcentern bundesweit durchgeführt. Die Interviewten arbeiteten vor allem in Leistungsabteilungen und in der Arbeitsvermittlung; weiterhin wurden Führungskräfte, Mitarbeitende für Inklusion, Migrationsbeauftragte und Gleichstellungsbeauftragte befragt. Ergänzt wurde dies durch Peer-to-peer-Interviews mit 40 Personen aus dem östlichen Europa und zwei Expert*innen-Interviews aus Rechts- und Sozialberatung.
Wichtigste Ergebnisse
Die qualitativen Befunde zeigen ein ambivalentes Bild: In vielen Jobcentern begegnen Mitarbeitende Ratsuchenden engagiert und diskriminierungskritisch; zugleich treten häufig institutionelle Praktiken und rechtliche Vorgaben zutage, die antiosteuropäische Zuschreibungen verstärken.
Kernbefunde sind:
- Rechtliche Hürden (z. B. der enge Nachweis des „Arbeitnehmerstatus“, fehlender Rechtsanspruch auf Integrationskurse) führen dazu, dass Personen aus dem östlichen Europa häufiger in prekären Lebenslagen verbleiben.
- Institutionelle Routinen (strenge Prüfungen, Informations-Vorenthaltung, Fokus auf Prävention von „Sozialmissbrauch“) verstärken Misstrauen gegenüber Antragstellenden aus bestimmten Herkunftsländern und führen zu Ungleichbehandlung.
- Individuelle Vorurteile bei Mitarbeitenden (Stereotype wie „arm“, „rückständig“, aber auch „fleißig, aber ausnutzbar“) prägen schnell Entscheidungen in Beratung und Vermittlung, weil Ermessensspielräume dies erlauben.
- Intersektionale Effekte treffen besonders Rom*nja sowie Frauen mit Care-Verantwortung: Mehrfachbelastungen und Zuschreibungen verschärfen Ausschlussmechanismen.
- Im Fall ukrainischer Geflüchteter ergibt sich ein Paradoxon: schneller Zugang zu Leistungen und Arbeitsmarkt über vorübergehenden Schutz erzeugt gleichzeitig neue Vorurteile (z. B. Vorwurf von „Privilegien“), und Maßnahmen wie der „Job-Turbo“ erhöhen das Risiko eines Abrutschens in den Niedriglohnsektor.
Diese Ebenen — rechtlich, institutionell, individuell — wirken zusammen und erzeugen einen sich selbst verstärkenden Mechanismus von Ausgrenzung, der die nachhaltige Teilhabe von Betroffenen erheblich erschwert.
Handlungsoptionen
Die Studie fasst die empfohlenen Maßnahmen in vier Maßnahmenbündeln zusammen:
1) Diskriminierungsschutz ausbauen
Der Schutz vor Diskriminierung soll auch staatliches Handeln umfassen, indem das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz auf Bundesebene erweitert und entsprechende Landesgesetze eingeführt werden, sodass Benachteiligungen durch staatliche Stellen leichter anfechtbar sind. Gleichzeitig muss die Antidiskriminierungspolitik thematisch breiter aufgestellt und finanziell sowie infrastrukturell gestärkt werden. Die Ämter der Antirassismusbeauftragten sollen auf allen Ebenen ausgebaut werden, um Rassismus ressortübergreifend wirksam zu bekämpfen. Ein flächendeckender Ausbau von Beschwerdestellen, insbesondere in strukturschwachen Regionen, ist notwendig. Diese Stellen sollten langfristig finanziell abgesichert sein und unterschiedliche Formen der Diskriminierung, einschließlich antiosteuropäischer Diskriminierung, gezielt in ihre Arbeit integrieren.
2) Integration statt schnelle Vermittlung in nicht passende Jobs
Statt Geflüchtete und Zugewanderte vorschnell in nicht passende Jobs zu vermitteln, sollte der Fokus auf nachhaltiger Integration liegen. Das Bürgergeld-Konzept trägt dazu bei, indem es Qualifikationen fördert und Weiterbildung ermöglicht. Eine rechtlich abgesicherte Bleibeperspektive – etwa durch eine Verlängerung des Aufenthaltstitels auf fünf Jahre – würde Beschäftigungschancen erhöhen und Fachkräfte langfristig binden. Zugleich sollten Integrations- und Weiterbildungskurse für alle Statusgruppen geöffnet, ihre Finanzierung dauerhaft gesichert und ihr Angebot ausgebaut werden, um Sprachkenntnisse, berufliche Integration und gesellschaftliche Teilhabe zu stärken.
3) Rassismuskritische Kompetenzen in Jobcentern ausbauen
In den Jobcentern besteht bereits ein Bewusstsein für rassistische und diskriminierende Einstellungen, das weiter gestärkt werden sollte. Regelmäßige, verpflichtende Fortbildungen zu Rassismus und insbesondere zu antiosteuropäischer Diskriminierung können dazu beitragen, diskriminierungssensible Handlungsabläufe zu verankern. Wichtig ist zudem die Qualitätssicherung durch geprüfte, community-basierte Bildungsträger und deren verlässliche finanzielle Ausstattung. Interne Austauschformate und Hospitationen fördern die Reflexion und Umsetzung antidiskriminierender Maßnahmen. Spezialisierte Teams mit Fokus auf Migration aus dem östlichen Europa können Beratungsqualität und Teilhabechancen verbessern, wenn sie durch ausreichende personelle Ressourcen unterstützt werden.
4) Antiosteuropäische Einstellungen im gesellschaftlichen Kontext
Antiosteuropäische Einstellungen in Jobcentern sind Ausdruck gesamtgesellschaftlicher Muster. Um ihnen wirksam zu begegnen, braucht es eine stärkere Förderung zivilgesellschaftlicher Initiativen, die antirassistische Arbeit leisten und bisher oft ehrenamtlich gegen Diskriminierung und Ausbeutung vorgehen. Langfristige Förderstrukturen und Anerkennung dieses Engagements würden ihre Wirkung deutlich stärken. Ebenso sollte die Erinnerungspolitik die NS-Besatzung im östlichen Europa und die Zwangsarbeit systematischer aufarbeiten, um historische Ausbeutungsverhältnisse sichtbar zu machen und Verantwortung klar zu benennen. Eine solche aktive Erinnerungskultur kann dazu beitragen, bestehende Vorurteile und gesellschaftliche Stigmatisierungen abzubauen.