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Stadt Gent, Unia und Immobilienmaklerverband Genter Ansatz gegen Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt

Der „Genter Ansatz“ gegen Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt umfasst die Durchführung von wissenschaftlichen (Korrespondenz-)Testings, Mystery Calls und Trainings zu Diskriminierung auf dem privaten Wohnungsmarkt.

Art des Wohnungsmarktakteurs:
Berufsverband der Wohnungsmakler*innen
Diskriminierungsmerkmale:
Ethnische Herkunft / Rassismus, Behinderung, Sozioökonomischer Status
Durchführung:
Gent seit 2015
Weitere Maßnahmen gegen Diskriminierung im Wohnungswesen:

ECCAR-10-Punkte-Aktionsplan 2015, Genter Charta für gleichberechtigten Zugang zum Wohnen

Kontakt

Frank Philipps - Regisseur integratiebeleid, Dienst Lokaal Sociaal Beleid, Departement Welzijn en Samenleving E-Mail: Frank.Philips@stad.gent Telefon: +32 04 86 362 511

Angaben zum Wohnungsmarktakteur

Der Genter Ansatz gegen Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt wird – im Rahmen der nationalen und regionalen Gesetzgebung (Flandern) – vorwiegend von fünf Akteuren getragen. Dies sind die Fachverwaltungen für Soziale Belange/Integration und Wohnen der Stadt Gent und der Berufsverband der Immobilienmakler und -verwalter, über den eine Vielzahl registrierter Vermieter*innen/Wohnungsunternehmen erreicht werden kann. Zentrale Kooperationspartner sind die Fakultät für Soziologie der Universität Gent (Projektleitung Pieter-Paul Verhaeghe) und der mit den Schulungen für Makler/Unternehmen/ Eigentümer*innen beauftragte Akteur Menschenrechtsorganisation Unia, die auf kommunaler und überregionaler Ebene Diskriminierung bekämpft und Chancengleichheit fördert.

Ausgangslage und Motivation

Die Stadt Gent hat circa 263.700 Einwohner*innen (Statista, 2022) mit einem Bevölkerungsanteil von circa 33,5 Prozent mit türkischer, marokkanischer, bulgarischer und niederländischer Migrationsgeschichte (Stadt Gent, 2020). Auf der Basis der Ergebnisse einer von ihr beauftragten Grundlagenstudie zu Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt ergriff die Stadtverwaltung im Jahr 2015 konkrete Maßnahmen, vor allem ethnisch/rassistisch begründeter Diskriminierung zu begegnen. Ausgangsposition der Stadt Gent ist, dass grundsätzlich alle ihr Bestes tun, um fair zu vermieten, gleichzeitig wissenschaftlich belegte Diskriminierung auf dem lokalen Wohnungsmarkt kommunales Handeln erfordert.Text Ausgangslage und Motivation

Maßnahmenbeschreibung

Weiterführende Materialien zur Maßnahme

Verhaeghe, P.P. (2022). Praktijktesten en mystery shopping als beleidsinstrument tegen discriminatie: Een analyse van hun verschillende toepassingen op de arbeids- en huurwoningmarkt.
(Praxistests und Testkäufe als politische Instrumente gegen Diskriminierung: Eine Analyse ihrer verschiedenen Anwendungen auf dem Arbeits- und Mietmarkt)

Testing-Verfahren sind eine Methode zur Sichtbarmachung von Diskriminierung, durch den Vergleich von zwei oder mehreren Bewerbungssituationen. Damit können systematische Ungleichbehandlungen offengelegt und Beweise für den Nachweis von Diskriminierung erbracht werden. Man unterscheidet zwischen wissenschaftlichen Testings und reaktiven Testings, bei denen eine Person, die Diskriminierung erlebt, das Testing durchführt. Beide Verfahren können als Korrespondenz- und Situationstests durchgeführt werden. Ein weiterer Ansatz ist das üblicherweise von Marktforschungsakteuren eingesetzte „Mystery Shopping“, der Einsatz von Testanfragen zum Beispiel zur Prüfung von Kundenfreundlichkeit. Zur Messung von Diskriminierung wird in den Vermietungsauftrag an Makler*innen/Hausverwaltungen eine diskriminierende Formulierung eingebunden, mit der die Bereitschaft zur Diskriminierung geprüft wird.

Der Genter Ansatz ist ein komplexes Zusammenspiel von Korrespondenz- und Situationstests und „ Mystery Shoppings“, der rechtlichen Prüfung von Testing-Ergebnissen, die auf Diskriminierung hinweisen, Sensibilisierungs- und Schulungsangeboten und Medienkampagnen. Die Fachverwaltung leitet eine Steuerungsrunde zum Verfahren, der die Unia, zwei wohnungswirtschaftliche Fachverbände und weitere zivilgesellschaftliche Akteure angehören. Die von der Hochschule durchgeführten Testings adressieren im Schwerpunkt Immobilienmakler*innen und -verwaltungen. Diese sind mehrfach testbar, im Gegensatz zu kleinen Vermieter*innen, die seltener Wohnungen anbieten. Seit 2014 beauftragte die Kommune drei Testreihen, eine vierte steht für 2022 an. In der ersten Testreihe im Jahr 2014, deren Ergebnisse in eine Grundlagenstudie für das weitere Verfahren einflossen, wurden die Merkmale ethnische Zugehörigkeit, Diskriminierung aus rassistischen Gründen, Nationalität und Sehbehinderung (Person mit Blindenhund) sowie Einkommenslage (Sozialhilfe-Leistungsempfänger*innen) getestet. Dabei wurde in den migrantischen Gruppen unterschieden nach Personen, die einen nicht belgisch klingenden Namen tragen, und Personen, die einen nicht belgisch klingenden Namen tragen und nur der englischen Sprache mächtig sind.

Den Auftakt zur ersten öffentlich kommunizierten Testreihe machte eine breite mediale Information in Tagespresse und Fernsehen zu den Ergebnissen der Grundlagenstudie und der geplanten Testing-Maßnahme. Informiert wurden auch die Generalversammlung des Berufsverbands der Immobilienmakler – Ostflandern (B.I.V), alle registrierten Makler*innen und privaten Wohnungsunternehmen. Information zum Verfahren und bisherigen Erkenntnissen zu Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt vermittelte auch eine Broschüre, die von den Fachverwaltungen und Unia verteilt wurde. Die Fachverwaltung für Wohnen etablierte eine Vermieter*innenplattform zum Handlungsfeld. An den jährlich zwei Treffen nehmen der B.I.V., das Berufsinstitut für Immobilienmakler und -verwaltungen sowie ein Eigentümerverband (Verenigde Eigenaars) teil. Beschäftigte der Fachverwaltung für Wohnen erhielten ein Sensibilisierungstraining.

Die Testreihe 2015–2016 umfasste nichtinformierte und informierte wissenschaftliche Testings und eine rechtliche Prüfung der Testing-Ergebnisse. Es wurden 1.666 Mietwohnungsangebote von 86 Immobilienmakler* innen und -verwaltungen getestet, mit circa zehn Tests pro Unternehmen. Eine rechtliche Prüfung von Testing-Ergebnissen wird dabei per definitionem auf individueller und nicht auf aggregierter Ebene durchgeführt. Abhängig vom Ergebnis wurden die/der betreffende Vermieter*in, der Berufsverband der Immobilienmakler, die Unia, die Polizei oder das zuständige Gericht informiert.

2018 konnte in zwei von zwölf Fällen aufgrund von Testings der Klageweg beschritten werden. Die verursachenden Vermieter*innen erhielten eine Einladung zu einem Sensibilisierungsgespräch und einer Schulung bei Unia. Parallel zu diesem Aufbau einer Fehlerkultur wurden jedoch zusätzlich gezielte Testings angekündigt und auch, dass weitere Diskriminierungsfälle dem Rechtsausschuss des Berufsverbands übergeben würden. Die in dieser Weise adressierten Makler*innen unterzeichneten die Antidiskriminierungs- Charta der Stadt Gent. Darüber hinaus scheint dieser Testing-Prozess eine Art Spillover-Effekt auf private Vermieter*innen in Gent zu haben.

2019 fanden weitere über 300 Testings bei Immobilienmakler*innen und auch privaten Vermieter*innen und ein „Mystery Shopping“ statt. An 69 Makler*innen wurden 100 „Mystery Mails“ versandt. 2022 findet eine dritte Testing-Reihe statt, erneut zu den Merkmalen ethnische Herkunft und Behinderung.

Stimmen aus der Praxis und Wirksamkeit

Der Genter Ansatz wird von den Beteiligten trotz selbstkritischer Reflexion zu Methoden- und Nachhaltigkeit (vergleiche Verhaeghe, 2020) als probates Mittel gegen Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt bewertet, auch wenn private Vermieter*innen nur begrenzt erreicht werden und deren Ansprache auch datenschutzrechtliche Gründe im Wege stehen. Mit der Veröffentlichung der Durchführung und Bekanntgabe der Ergebnisse der Testings im Jahr 2016 gingen die Diskriminierungsfälle in den getesteten Marktbereichen zunächst zurück. Die Folgemessung ergab, dass die ethnische Diskriminierung durch Immobilienmakler* innen und -verwaltungen deutlich zurückgegangen war, von 26 Prozent auf zehn Prozent. Die Diskriminierungsrate bei den (vor allem kleinen) privaten Vermieter*innen hingegen ging nur um vier Prozentpunkte zurück, von 47 Prozent auf 43 Prozent. Nicht identifizierbar war, ob die gemessene Diskriminierung bewusst oder unbewusst erfolgte und ob sich diskriminierendes Verhalten von Vermieter* innen nach den Maßnahmen in eine spätere Phase des Vermietungsprozesses verschoben hat. Aktuell vermutet Frank Stephen, Leiter des Bereichs Integration in der Genter Stadtverwaltung, dass „ethnische Minderheiten zwar die gleiche Gelegenheit erhalten, eine Wohnung zu besichtigen, aber während oder nach der Besichtigung weiterhin benachteiligt werden“. Um Letzteres gerichtsfest nachzuweisen, ist ein Face-to-Face-Situations-Testing bei Wohnungsbesichtigungen erforderlich, für das auch der Stadt Gent die Ressourcen fehlen.

Das Maßnahmenpaket sieht – so es nicht zum Klageverfahren kommt – keine Sanktionen außer gegebenenfalls Mahnung durch den Dachverband der in der Immobilienwirtschaft Beschäftigten vor. Die Unia kann zu ihren Schulungen nur einladen, nicht verpflichten. Nur vier von den zwölf nach der ersten Testing- Welle 2015 eingeladenen Unternehmen nahmen daher an diesen Schulungen teil.

Relevant für die Bewertung der Maßnahme mit Blick auf kleine private Vermieter*innen ist – so Verhaeghe/Ghekiere in einer wissenschaftlichen Reflexion der Testing-Ergebnisse 2018 – die Erklärung des Spillover- Effekts. Es wird vermutet, dass private Vermieter*innen sowohl durch den offensiven Antidiskriminierungsdiskurs der Behörden beeinflusst werden als auch besorgt sind, selbst Zielgruppe von Testings zu werden und daher ihr Verhalten änderten. Während private Vermieter*innen in 47 Prozent der Vermietungsanzeigen von Januar bis März 2015 diskriminierten, hat sich dieser Anteil bis Februar 2019 auf 21 Prozent der Anzeigen reduziert.

Um nachhaltig Haltung und Praxis der Vergabe zu beeinflussen, sollten die Testings aus der Perspektive sowohl der Wissenschaft als auch des Leiters der Fachverwaltung für Integration kontinuierlich zu verschiedenen Merkmalen durchgeführt werden. Dies ist unter anderem deswegen notwendig, weil neu auf dem Markt agierenden Akteuren die Thematik und die Testings-Praxis nahegebracht werden müssen und neues Personal in den Unternehmen, die die Testings-Erfahrung bereits haben, mit den Testings-Verfahren konfrontiert werden muss.

Gefährdet ist ein so umfassender Antidiskriminierungsansatz – so die jüngsten Erfahrungen in Belgien – durch Regierungswechsel mit konservativer bis rechtskonservativer Tendenz auf nationaler wie lokaler Ebene. Gleichwohl sind die Städte Antwerpen, Mecheln, Leuven und Ostende dem Genter Beispiel gefolgt.

Einbettung der Maßnahme

Als Mitglied des ECCAR-Städtenetzwerks band Gent sein Maßnahmenpaket gegen Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt in den ECCAR-10-Punkte-Aktionsplan 2015 ein und legte eine „Charta für gleichberechtigten Zugang zum Wohnen“ vor. Für Betroffene bietet Unia auf ihrer Internetseite seit 2016 auch ein Selbsttest-Tool zu Diskriminierung an.

Tipps für die Übertragung

Für die Umsetzung eines so komplexen und langfristigen Maßnahmenpakets sind ein starkes politisches Commitment, gute Zusammenarbeit zwischen Verwaltungs- und zivilgesellschaftlichen Akteuren und wohnungswirtschaftlichen Verbänden sowie Wissenstransfer zu den Erfahrungen in Gent erforderlich. Hilfreich erscheint auch die Selbstverpflichtung im ECCAR-Städtenetzwerk, das mit seinem 10-Punkte- Aktionsplan eine Berichtspflicht der Kommunen verbindet. Aus statistischer/methodischer Sicht – so auch die Position von Verhaege (2022) – ist es zielführend, einzelne Organisationen oder Personen mehr als einmal zu testen, um eine zufällige Ungleichbehandlung von einem statistisch signifikanten Diskriminierungsmuster zu unterscheiden. Für die Durchführung der Testing-Verfahren sind erfahrene Partner* innen und ein ausreichendes Budget erforderlich. In Gent beliefen sich die Kosten je nach Verfahren auf 15.000 Euro bis 90.000 Euro.

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